Sonntag, 11. Juli 2010

Der Novellist - 4. Teil

Die Wüste war wahrlich weit. In alle Richtungen reckte sie sich und schien so gewaltig, dass sie sich am anderen Ende des Globusses selbst berühren und somit die ganze Welt umspannen könnte. Anfangs trug der borstige Steppenwind des Nachts noch das Heulen sich vor Einsamkeit verzehrender Kojotenweibchen an ihn heran. Mit jeder Sonnendrehung schwand auch diese Gesellschaft, bis er vollständig allein war. Doch wie auf dem Meere, so war er auch hier beileibe nicht einsam. Wenn er ging – und er ging den lieben langen Tag mit leichtem, federndem Tritt – so hatte er den flimmernden Horizont vor Augen und war gleichwohl glühend von Tatendrang und dem Gefühl, vorwärts, immer vorwärts zu gelangen, als auch trunken von seinen eigenen Gedanken. Sie tollten um den Inhalt seiner Manuskripte herum, von denen er schon ganze Abschnitte auswendig kannte. Das Gefühl, immer näher an der lyrischen Perfektion zu sein, hielt die Flamme in seinem Innern am Flackern, einzig von Eifer und Hoffnung genährt. Und wenn er doch mal Durst oder Hunger in sich rebellieren spürte, so griff er aufs Geratewohl ein Blatt aus dem Stapel unter seinem Jackett und studierte die zigmal korrigierten Zeilen. Sogar die Rückseiten der Blätter, die er seit jeher aus grundloser Überzeugung, die fast schon religiösem Eifer glich, unbeschrieben ließ, waren gänzlich mit Tinte ausgefüllt. Und sofort, wenn er seinen Blick durch die Irrungen des verwinkelten Labyrinths seiner tief empfundenen Orthographie streifen ließ, öffneten sich Türen zu Räumen, deren Existenzen er bisher nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Wie blass und eindimensional ihm hier doch die einfältigen Werke seiner Vergangenheit vorkamen, wie stupide und mittelmäßig das Schaffen großer Literaten war, im Vergleich zu dem, was hier unter diesem unbekannten Himmel von seinen verschwitzten Fingern geboren wurde. Gargekocht von der Sonne, angefüllt mit Trugbildern und tänzelnden, längst vom rechten Weg abgekommenen Gedankenungetümen war er doch so kreativ wie nie. So frei, so selbstsicher durchquerte er die große Dürre wie ein Seiltänzer, der artistisch über den staunenden Augen über der Manege und unter dem Dach des Zirkuszelts in luftiger Höhe tänzelt. Ohne einen doppelten Boden, ohne Netz, ohne alles, weil er nichts weiter brauchte als genau diesen einen Zeitpunkt, in dem er zu seinem Füller greifen und dieses bestimmte, penibel aus dem Granit befreite Wort niederschreiben konnte. Herr von Seinen war in Ekstase und die Nächte rauschten nur so über ihn hinweg. Wenn ein Kaktus seinen Weg kreuzte, so hielt er kurz inne und schnitt sich ein wenig von seinem Fleisch vom Stamm. Kaktusfleisch war das einzige, was er in dieser Zeit zu sich nahm und es mundete vorzüglich. Es war ihm ein Rätsel, wie er in seinem bisherigen Dasein ohne diese Delikatesse überhaupt im Stande gewesen war, zu überleben, geschweige denn ein halbwegs normales Leben zu fristen, ohne dem Wahnsinn anheim zu fallen. Er ließ es sich nicht nehmen, eine kleine Ecke, am oberen Rande jenes Manuskriptblattes, auf dem seine Aufzeichnungen ihren Anfang genommen hatten, die er aus unerfindlichen Gründen bisher freigelassen hatte, mit einer kleinen Randnotiz zu füllen: „Wichtig: Zuhause Kaktusfleisch essen!“
Wenn er sich nach seinem Mahl schmatzend und sich über die spröden Lippen leckend hurtig wieder in Bewegung setzte, so stand sein Denkapparat für eine Weile still. Er hatte Ruhe von sich selber und konzentrierte sich ganz auf den unendlichen Weg, bis der Prozess des Sinnens und Grübelns von alleine wieder in den gewohnten Trab verfiel. Ansonsten geschah nicht viel Erwähnenswertes. Vielleicht mag es den einen oder anderen tangieren, dass Herr von Seinen alle paar Meilen eine kurze Rast einlegte, um sich zu säubern und seine Garderobe einer knappen Inventur zu unterziehen. Sand und widerspenstige Reste von Salz wurden auch aus den verborgensten Nähten seiner Kleidung getilgt. Der Zylinder wurde von außen wie von innen akkurat gereinigt und entstaubt, jede unerwünschte Falte wurde mit besorgten Händen vom Angesicht des Planeten gestrichen. Herr von Seinen vertrat die Meinung, dass man umso ordentlicher in Erscheinung zu treten habe, je unordentlicher und konfuser es im Inneren des Menschen aussah. In dem Novellisten herrschte von je an Chaos. Doch er wusste sich damit zu arrangieren. Ja, er hatte es, wenn er es recht bedachte, zeitlebens genossen, eine so interessante und mysteriöse, gleichsam stets liederliche Werkstatt in sich vorzufinden. Auch räumte er dort nie auf, er verspürte etwas lockend Exotisches, ein Gefühl von Abenteuer, wie er es in weiter Ferne als Knabe beim Lesen gewisser Romane zuletzt empfunden hatte, wenn er dort Erkundungen anstellte. Er sagte sich, solange seine innere Werkstatt kaum mehr als ein staubiger Haufen von fremdartigen Gerätschaften war, solange dürfte auch noch das Quäntchen Kind, das er so schätzte, tief in seinem Geist sitzen und ihn in den entscheidenden Momenten schalkhaft lachend steuern. Also überprüfte er die korrekte Drehung seiner Hemdknöpfe, rubbelte einen Saftfleck, von einem der Kakteen stammend, peinlich berührt vom makellosen Kragen und blinzelte zufrieden in die unermüdliche Sonne. Ein paar Tage lang war er in einem ausgetrockneten Flussbett gewandert und hatte dies anfangs sehr geschätzt, da seine Wände Schutz vor der Sonne und der Heftigkeit plötzlich eintretender Sandstürme geboten hatten. Doch missfiel ihm das Wandern in dieser kärglichen Rille immer mehr, bis es ihn förmlich anwiderte und er sich aufgebracht zu fragen begann, wieso er jemals einen Fuß in diese frevelhafte Schändung der sonst so herrlich einförmigen Wüste gesetzt hatte. Fortan lief er querfeldein und achtete nicht einmal darauf, gen Westen zu pilgern, sondern schritt einfach in die Richtung, welche ihm im Augenblick am meisten behagte. Immer, wenn er irgendwo eine Fata Morgana erblickte, korrigierte er seinen Weg so, dass er sich möglichst weit von ihr abwandte und bald schon wurden diese Luftspiegelungen zu seinen wahren Wegweisern. Sobald er ein verräterisches Flimmern in der Ferne ausmachte, drehte er sich auf der Stelle um und schritt weit in die entgegengesetzte Richtung aus. Eine Zeitlang noch trieb es den Lektor spielenden Novellisten in seltsamem Zickzack durch das Sandmeer, bis er urplötzlich einfach haltmachte. Eine Weile stierte er durch den Vorhang seiner verklebten Wimpern mit verwundertem Ausdruck geradeaus. Dann räusperte er sich leicht, wischte sich übers Gesicht und trat letzten Endes wieder ein paar Schritte zurück. Als letzten kläglichen Versuch griff Herr von Seinen zu seiner Brille und schob sie sich kritisch das dürre Nasenbein hinauf. Angestrengt blickte er wieder auf das vor ihm liegende, nun freie Feld. Es war schon wundersam. Tat er einen Schritt nach vorne, so tat sich vor seiner Gestalt ein Berg von epochaler Größe auf. So breit, so massig, so göttlich, dass er ihn unter keinen Umständen bisher übersehen haben konnte. Ging er jedoch wieder zurück, so lag die Wüste in jener steppenhaften Einheitlichkeit vor ihm, wie er sie kennen und schätzen gelernt hatte. Zurück, vor, zurück, vor. Kein Zweifel, er war hier auf etwas Sonderbares gestoßen. Er zuckte die Achseln, kramte dann aber eifrig seine Notizen hervor, wühlte in dem wohl sortierten Stapel, bis er einen Zettel fand, der ihm passend erschien, und notierte mit ruhiger und langsamer Schreibhand etwas von einem eigentümlichen Breitengrad. Dann nahm seine Hand an Geschwindigkeit auf und er gab sich einem ungehemmten Schreibfluss hin. Bereits Geschriebenes wurde einfach von diesem Erguss überlagert. Was machte es schon, er konnte es erneut niederschreiben, schließlich befand sich doch alles in seinem Kopf! Eine Parade von Stichworten und Querverweisen zog sich nach wenigen Minuten über die Seite hinab und endlich beruhigte sich die unermüdliche Tatze und der Füller wurde zurück in seine sichere Halterung geführt. Eine Weile noch betrachtete Herr von Seinen das soeben Verfasste, machte abermals ein paar Schritte vor und zurück, als wollte er die Authentizität des Abbildes der Wirklichkeit auf seinem Papier überprüfen, und nickte dann voll Zufriedenheit. Mit graziöser Behutsamkeit, als trage er ein Neugeborenes, lagerte er seine Unterlagen wieder fest an seiner Brust, knöpfte das Jackett bis oben hin zu und betrat ohne Umschweife den Fuß des Berges.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de