Montag, 5. Juli 2010

Der Novellist - 3. Teil

Er gähnte herzhaft, streckte alle Viere von sich und erhob sich aus dem knöcheltiefen Wasser. Gischt kräuselte sich liebkosend um seine Gamaschen. Wenige Schritte von ihm entfernt stand eine vermummte Gestalt und starrte ihn aus großen braunen Augen heraus an.

Herr von Seinen klappte seinen Zylinder aus und schüttelte ihn ein wenig hilflos in der Luft herum, woraufhin eine Hundertschar winziger Tropfen aus dem Stoff sprang. Dann platzierte er ihn an seinem zugewiesenen Platz über der Stirn, um ihn sofort danach höflich zu lüpfen. Während er sprach, legte er die Entfernung zwischen sich und dem verdatterten Herren zurück.

„Guten Tag, der Herr. Mein Name ist Lars von Seinen. Schriftsteller bin ich von Beruf, Novellist um genau zu sein.“ Er lächelte höflich. „Vielleicht haben sie ja schon einmal von mir gehört.“

Da der Fischer keine Anstalten unternahm, aus seiner schweigsamen Starre zu erwachen, fuhr der Novellist Lars von Seinen munter fort: „Eine malerische Küste haben sie hier. Ja, sie können sich glücklich schätzen. Hätten sie wohl die Güte, mir zu erklären, wo genau wir uns befinden? Ich muss gestehen, im Laufe der vergangenen Tage etwas die Orientierung verloren zu haben.“ Er warf aufs Geratewohl ein paar prüfende Blicke zu allen Seiten. „Womöglich bin ich ein wenig von meinem ursprünglich geplanten Kurs abgekommen.“ Mit einem offenen Lächeln fixierte er den schmalen Spalt der Kopfbedeckung, die nur Platz für ein wenig Stirn und jene großen Sehwerkzeuge ließ.

Endlich rührte sich sein Gegenüber, er löste unglaublich langsam die Verschränkung seiner Arme und machte einen Schritt auf Herrn von Seinen zu. Kleine Rinnsale von feinem Sand gossen sich hierbei aus den frisch geöffneten Stoffkanälen seiner Tracht und wurden vom Wasser gleichgültig gefressen, das nun seine nicht beschuhten Füße, die enorme fleischige Zehen aufwiesen, wie leichter Wind umspielte. Die Antwort gab er mit einer tiefen, stumpfen Stimme in sehr langsamem Sprechtempo.

„Lrink Sgetra end. Mulctestref sturenk pehrk… Krellster end rents spar.“, er nickte bekräftigend und klatsche dann mit unveränderter Miene zweimal in die schaufelartigen Hände.

Herr von Seinen schaute ihm beeindruckt ins Gesicht. Nur einmal zuckte sein Mundwinkel kurz, während er nachdachte. Auf seinen Zügen lag unverändert das höfliche Lächeln.

„Das ist interessant. Es ist noch früher Morgen; wenn sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne für eine Weile zu ihnen gesellen. Mit etwas Geduld gelangen wir vielleicht zu einer Verständigung.“ Der Fischer grinste ihn an. Zusammen gingen sie den Stand hinauf, ließen sich am Fuße eines Baumes nieder, der aus korbartigem Material zu bestehen schien und auch sonst einer Palme ausgesprochen ähnlich war, und schufen Kommunikation. Herr von Seinen malte unter Zuhilfenahme all seiner Gliedmaßen und mehrerer Stöcke und Farne Landkartenteile, Gegenstände und Gestirne auf den Boden. Der Fischer hatte sich seines Gewandes entledigt und stand ihm mit freiem Oberkörper gegenüber. Sie gestikulierten, in regelmäßigen Abständen begann der Novellist zu schreien, einmal verschwand er für längere Zeit hinter dem Baum und kam mit völlig zerzaustem Haar und einer Beule im Zylinder wieder zum Vorschein. Dann standen sie wieder voreinander, sprachen sich vor und nach, klopften sich auf die Schultern, klopften sich auf die Bäuche, sperrten ihre Münder auf und lachten immer laut, wenn ein neuer Meilenstein auf dem unerbittlichen Pfad mittig von zwei vollständig unterschiedlichen Sprachen passiert wurde. Gemeinsam bauten sie diesen Pfad aus, anfangs dünn wie ein Nadelöhr, weiteten sich seine Grenzen und gegen Nachmittag gelang es ihnen, Hand in Hand diesen frisch geräumten Weg entlang zu schreiten. Sie verstanden einander.

Als Herr von Seinen sich nun um genaue Angaben bezüglich ihres Aufenthaltsortes erkundigte, sprach der Fischer flüssig und leicht verständlich die Worte: „Dies hier ist der Strand. Dort ist das große Wasser.“

„Ja.“, erwiderte Herr von Seinen. „Wo liegt Westen?“

Sein neuer Freund nickte und betrachtete seine Hände. Herr von Seinen wiederholte seine Frage und nun zeigte der Fischer fort von dem Meer, den langen Strand hinauf.

„Dort. Große, weite Wüste. Sie frisst.“ Dann rannte der Mann aufs Wasser zu, preschte durch die Brandung und warf sich auf den Bauch, woraufhin er vollständig unterging. Als er wieder auftauchte, zappelte ein silbern schillernder Fisch in seinen mächtigen Händen. Am Strand scharrte er mit seinen Füßen ein rechteckiges Becken in den Sand, das sich rasch mit Wasser füllte, und ließ seine Beute in den flachen Käfig gleiten.

„Wüste ist zu dir, wie Land für Wassertiere ist. Willst du Fisch für deine Reise?“

Doch Herr von Seinen hörte gar nicht hin, seine Augen kundschafteten die weite Ödnis im wiedergefundenen Westen aus.

„Wo ist ihre Familie, mein Herr?“, nahm er schließlich das Gespräch wieder auf.

Ohne Zögern kam die Antwort. „Ich bin alleine. Hier lebe ich. Ich erzähle Menschen von weiter Wüste. Und von großem Wasser. Ich träume, dass ein kleiner Mann mir den Auftrag gegeben hat, es den Reisenden zu sagen.“ Nun strahlte er, aber seine Augen wirkten matt in dem vom Salzwasser glänzenden Gesicht.“

Herr von Seinen war immer noch abwesend und antwortete mehr aus gutem Benehmen denn aus Interesse.

„Kommen denn viele hier vorbei?“

„Von dem großen Wasser oder von der weiten Wüste?“, lachte der Fischer. „Nein, nicht viele, natürlich nicht. Noch nie kam einer. Wer sollte denn auch? Das große Wasser ist leer, die weite Wüste ist leer. Und beide sind tot.“ Er klatschte wieder in die Hände. Als Herr von Seinen den Blick wieder auf ihn richtete, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass drahtige Geschwüre die Arme und den Brustkorb des Fischers verunzierten. Er sagte noch etwas zu ihm, der Fischer schaute ihn stumm an und stand wie versteinert am Strand. Der Seewind heftete Sandkörner an seinen feuchten Körper. Winzige kleine Dampfbällchen pufften aus den beiden Ohren des Fischers und erinnerten Herrn von Seinen an die schmächtigen Rauchwolken, die die Cecillie aus ihrem Schornstein gepresst hatte. Er sollte hier wirklich keine Zeit vergeuden. Das Leben war kurz und in seinem Fall vielleicht schon zur Hälfte verstrichen, wie er sich seit Jahren im Stillen predigte, wenn Bequemlichkeit sich seiner Knochen bemächtigen wollte.

„Werter Herr, meinen besten Dank für das Angebot mit dem Fisch. Aber ich bin versorgt.“ Er klopfte demonstrativ auf seine wohl gepolsterte Brust.

„Nun, ich würde sagen, es wird höchste Zeit, dass ich meinen Weg fortsetze. Ich danke ihnen aufs Herzlichste für die anregende Konversation und die wertvollen Informationen. Einen sonnigen Tag wünsche ich noch.“ Er hob den Hut zum Gruße, verbeugte sich dabei schwungvoll und drehte sich auf dem Absatz um. Seine Füße trugen ihn in die weite Wüste und hinterließen erst feuchte, schon bald aber trockene Spuren, die der Wind mit Eile verschwinden ließ. Hinter ihm wurde der Fischer immer kleiner und verschmolz mit wachsender Entfernung mit dem dünnen Strich des Meeres.

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