Lars von Seinen war ein Novellist, wir würden sagen, ein durchaus rechtschaffender, ehrenhafter Novellist. Er sprach nicht übermäßig viel, jedoch auch nicht auffällig wenig. Er tat sich, er konnte es sich ob seines zahmen Erfolges jüngster Tage durchaus leisten, in Maßen großzügig, legte jedoch kein großmütiges, geschweige denn prahlerisches Gebaren an den Tag. Wenn man nach ihm fragte, wenn Bekannte in sich forschten, welche Meinung sie Herrn von Seinen gegenüber wohl vertraten, so kam man zumeist zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um einen angenehmen, gesitteten und nicht zuletzt respektabel gebildeten Zeitgenossen handele, dessen Bekanntschaft man sich in keinster Weise zu schämen bräuchte.
In jenem Augenblick befand sich Herr von Seinen an Deck eines drolligen Dampfers. Er hatte sich dieses Schiff extra für seine Reise gechartert, war der einzige zahlende Passagier, und sie befanden sich bereits seit ungezählten Tagen auf hoher See. Der Horizont bog sich kreisrund um das Zentrum des Meeres, das, wie es Auge, Gefühl, wie auch beinahe schon Vernunft, nickend bestätigen wollten, sie selbst waren. Hie und da bog sich eine besonders große Welle keck aus dem wabernden Graublau des Ozeans und brach daraufhin wieder in das große Nichts des riesigen Organismus zurück.
Es steckte keine Eitelkeit in seinem Handeln, höchstens eine Spur von gesunder Egozentrik war zu finden. Der tatsächliche Grund für seine gesellschaftslose Reise auf eigens gemietetem Kahn war sein Wunsch nach Inspiration. Lars von Seinen befand sich die meiste Zeit an Deck, saß in seinem extra für diesen Zweck angefertigten Sessel und sinnierte in sich hinein. Der Wind blies ihm ins Gesicht und um die Ohren, ganz egal, in welche Richtung er seinen Thron auch ausrichtete. Beizeiten, wirklich nicht sehr oft, warf der Kapitän und Steuermann einen Blick aus seinem kleinen Kabuff hinaus auf Herrn von Seinen. Doch weilten seine Augen nie lange auf dieser Gestalt – es war einfach kein besonders aufregender Anblick, der sich da bot. Leicht schlaksig die Statur, dünne, etwas zu lange Beine, einen schmalen Brustkorb, aus dem zwei merkmalslose Arme ragten, die stets darum bemüht waren, mehrere Stapel von Zettel beieinander und in Ordnung zu halten. Der kantige Kopf mit seinem großen Gesicht, das sich noch weit bis in jene Regionen erstreckte, die in anderen Fällen dem Kopfhaar zugestanden hätten, saß gedrungen auf den Schultern und war starr auf die Schreibarbeit gerichtet. Schmale Lippen, blau von der ungewohnten Seeluft, hervorstehende Augen mit leichtem Silberblick und eine drahtige Nase, welche bis hoch zu den unerwartet struppigen Augenbrauen, die große, dunkle Striche auf seiner Stirn waren, reichte, bildeten die gottgegebene Miene des Passagiers. So, wie sie halt ausschauen, diese Sonderlinge, Schreiberlinge, dachte sich der Steuermann hierbei und belächelte diesen romantischen Festlandmenschen mit erfahrener Gutmütigkeit, ehe er sich wieder ans Navigieren machte. Auch, wenn es anfänglich den Anschein erwecken mag, Herr von Seinen sei hässlich, hätte gar eine aufs Unsägliche missratene Visage, so muss man sich nach kurzer gedanklicher Zäsur fix eingestehen, etwas vorschnell geurteilt zu haben. Nicht nur, dass die einzelnen Elemente seiner äußeren Erscheinung, so seltsam sie für sich auch sein mochten, ganz vorzüglich miteinander harmonierten, sie bildeten fast schon ein (so denn man etwas zu sehr ins Bildliche gerückten Vergleichen nicht gänzlich abgeneigt ist) lebendiges Portrait beachtlicher Prägnanz. Geschmückt wurde er von einem durchaus adretten, wenn auch Ort wie Witterungsverhältnissen gänzlich unangemessenem Kostüm, das seinen schmalen Körper in unbeschreiblicher Kombination aus Tadellosigkeit und Unbeholfenheit wie eine modische Festung umfing. Ein breiter Zylinder auf dem Kopfe, eine Brille, die jedoch stets nur zusammen geklappt am Kragen hing, und lediglich hervorgeholt wurde, wenn die Dämmerung schon lange in die Nacht übergelaufen war, und zweckmäßige Gamaschen, die farblich dezent seine knabenhaften Waden betonten, bildeten die Eckpunkte seiner Garnitur.
Just in diesem Moment hob dieser Novellist sein Bein, um sich dem rustikalen Beistelltische zuzuwenden, auf dem alle Utensilien, die für den vollendeten Genuss einer Maiskolbenpfeife vonnöten sind, in penibler Ordnung auf ihren Gebrauch warteten. Da wand sich eine zickige Bö unter seinem Arm hindurch, griff mit jugendlicher Wucht unter den Stapel abenteuerlicher Notizen im rohesten aller Zustände und hob ihn im Ganzen empor, nur um ihn in zwei bis drei Metern Höhe sanft zu zerpflücken und über unsichtbare Hügelketten hinweg gen Steuerbord zu tragen.
Herr von Seinens Haupt ruckte hoch und verfolgte die Flugbahn der frisch vollendeten Arbeit. Währenddessen beschäftigten seine Finger sich in geschickter Routine auf dem Tisch, zogen die Pfeife heran, eilten zum Tabakbeutelchen (angefüllt mit Räucherware, die er nie zu benennen wusste, jedoch sehr achtete, da sie ihm ein Gefühl von dichtem Forst und wilden Wiesen in den Brustkorb brachte) und stopften dessen Inhalt, nachdem sie eine grobe, jedoch gewissenhafte Säuberung vorgenommen hatten, wohl dosiert in den bauchigen Kopf. Da sich das Paket Zündhölzer gewohnheitsmäßig bereits in seinem Brusttäschchen befand, erhob er sich, das präparierte Rauchwerkzeug mit allen fünf Fingern umgriffen, und schritt mit misstrauischem Eifer die Flugbahn ab, über die seine flatterhafte Inspiration letzter Tage sich soeben verflüchtigt hatte. Wie bereits erwähnt, handelte es sich um ein eher handliches Wassergefährt, sodass der Dampfer nach kurzer Zeit in seiner Länge durchschritten war und Herr von Seinen noch beobachten durfte, wie die letzten Nachzügler seiner entwendeten Manuskripte nach unten und somit aus seinem Sichtfeld hinter den Rücken des Dampfers getragen wurden. Es war kein wilder, erbarmungsloser Wind, der wie tollwütig Seemeile um Seemeile übertobte, vielmehr handelte es sich um einen verspielten Luftzug, der sich, so kam es Herr von Seinen in akutem Besinnen vor, mit fast schon schüchternem, vielleicht sogar gleichsam entschuldigendem Gebaren seiner Arbeit bemächtigt hatte. Ein Fahrtwind, der noch keine rechte Kontrolle über seine ungestüme Natur hatte. Herr von Seinen hegte keinen Groll gegen ihn. Er stellte sich mit geschlossenen Füßen an die Reling und blickte auf das blubbernde Meer hinab. Kleinere Wellen schwappten gegen den Rumpf, auf dem weiter oben der Taufname „Kronprinzessin Cecillie“ prangte. Ob Scherz oder Hommage, er hatte nie nähere Auskunft erfahren können. Wie automatisch führte er die Pfeife an die Lippen und erhitzte den Tabak mit einer Flamme, die allem Pusten der Seewinde trotze. Die Cecillie trieb fort auf ihrem Weg und lies eine gestreckte Inselgruppe aus Papier hinter sich, welches sich mit Salz und Wasser vollsaugte, das die noch jungen Buchstaben miteinander und anschließend der erhabenen Unendlichkeit des Meeres höchstselbst verband. Herr von Seinen öffnete die oberen drei Knöpfe seines schnörkellosen Hemdes und nahm einen epikurisch tiefen Zug Pfeifenluft auf. Er lehnte mit angespanntem Bauch an der harten Reling und fasste die auseinandertreibenden Papiere ins Auge. Dann zwinkerte er zweimal, biss fest auf das Mundstück seiner Pfeife und federte mit einem beherzten Sprung über die Reling am Rande des Schiffes hinunter ins ozeanische Nass.
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