Dienstag, 3. August 2010

Der Novellist - 6. Teil

Der Tumult des Hungers geleitete ihn zurück in jene Welt. Der Nachwuchs schrie nach Nahrung und eine geschäftige Vogelmutter steuerte in kontrolliertem Sturzflug auf das Nest zu. Die Sonne stach durch das Gefieder ihrer angewinkelten Schwingen. Der Wind pfiff ihnen allen um die Köpfe und war ihnen ein einzelnes Schicksal. Die Brut schrie, denn sie wollte essen, und Herr von Seinen fiel in den bittenden Gesang ein, denn auch er verspürte Appetit. So begab es sich, dass er nicht weiter herausstach, aus der Meute hungriger Schnäbel, und wie der Adler seine Jungen versorgte, so bekam auch Herr von Seinen einen gerechten Anteil, den er eifrig vertilgte. Während er so aber zwischen den heranwachsenden Vögeln faulenzte und gedankenverloren seine Notizen durchging, beschlich ihn Reue. Die Nestbewohner schienen nicht gesättigt und von der Vogelmutter war immer noch keine Wiederkehr zu erwarten. Also brach er auf und durchkämmte die nähere Umgebung. Eine Höhle, die sich beinahe seinem Auge entzogen hätte, beherbergte das Lager einer gefräßigen Maus, die sich seit Tagen auf ihre lange gehorteten Vorrat berief, und so im Schatten des Unterschlupfs und in eigenem Namen dick und träge wurde. Herr von Seinen bedauerte ihr Schicksal, ergriff sie am Schwanz und beschenkte sie mit der Gnade des Mordes.

Der Anblick der schön geschwungen Schnäbel, die sich den prallen Nager teilten, die freundschaftliche Rauferei um die dicksten Brocken und der Schatten der wachsam umher gleitenden Adlerdame versöhnten Herr von Seinen mit sich selbst. Schließlich segelte die Nestbesitzerin in ihren Hort zurück, musterte mit leutseliger Zufriedenheit ihre Brut und drehte sich sodann mit Bestimmtheit zum Novellisten.

„Du hast meinen Kindern Nahrung gebracht. Und du hast den Schädling beseitigt, der sich an den Vorräten der Tiere dieses Gipfels heimlich bereichert hat und den zu finden mir nie vergönnt gewesen war“, schnarrte der Adler. Es bereitete ihm augenscheinlich Probleme, die menschlichen Laute mit seiner kleinen Zunge zu bilden. Er brauchte lange für diese Dankesrede. Zwischen den Silben vergingen etliche Sekunden, in denen er auf den richtigen Windhauch wartete, der ihm beim Sprechen behilflich sein konnte.

„Sie haben mich versorgt, als wäre ich eines Ihrer Kinder“, erwiderte der Novellist und gähnte, denn die Luft hier oben war so dünn, wie sie klar war. „Und ich wusste“, fuhr er nach einer Weile fort, in welcher er mit eitler Sorge die Ränder seiner aggressiven Geheimratsecken abtastete, „dass Tiere von mäuserischer Gattung in solchen Höhen nur aus einem Grund existieren. – Um andere Existenzen zu ermöglichen.“ Er zwinkerte dem großen Vogel etwas unsicher zu, da er sich über das Gesagte nicht gänzlich im Klaren war.

Der Adler wägte die Antwort mit geneigtem Kopf. „Du bist höher gestiegen, als je ein Mensch vor dir. Du sitzt in meinem Nest auf der Spitze des größten Berges. Sag, was hat dich in diese Regionen verschlagen?“

„Ich laufe meiner Inspiration hinterher. Stellen sie sich vor. Sie versuchte vor mir zu fliehen.“ Mit tadelndem aber auch schwermütigem Blick brachte er die Antwort pfeilschnell hervor, denn er wusste sich wieder auf sicherem Terrain.

„Inspiration? Du suchst sie in der Wanderschaft? Du hoffst sie hier im kahlen Fels zu entdecken?“
Herr von Seinen gackerte angesichts solcher Albernheiten. „Entschuldigen Sie, werte Dame. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Dies hier ist die Inspiration!“, er klopfte sich auf die gepolsterte Brust. „Sie flog über Bord, wissen Sie. Derselbe Wind, auf dem Sie reiten, derselbe Wind, der Ihnen das Sprechen in unserer Sprache ermöglicht, derselbe Wind der Wellen und Stürme gebärt, hat mir diese Blätter samt meiner Inspiration entrissen.“, er zappelte vor Aufregung. „Ich konnte einfach nicht anders. Ich musste ihr Folgen.“

Dann schwiegen beide einige Zeit. Die Küken hatten sich beruhigt und die Schnäbel in ihrem Gefieder verborgen. Bald würden sie flügge werden und selber fliegen. In ihren Bäuchen lag schwer die müßiggängerische Maus.

Schließlich ergriff die Mutter wieder das Wort. Vielleicht war sie verunsichert vom Blick des Besuchers, der die ganze Zeit ungeniert über ihren muskulösen Leib wanderte, während seine Hände einen Füller mit einer Geschwindigkeit drehten, dass seine Form verschwamm und sich beinahe aufzulösen schien. Ab und zu rümpfte er die Nase.

„Ich hätte nicht erwartet, tatsächlich einmal einen von deiner Sorte bei uns begrüßen zu dürfen.“, schnarrte sie fort. „Im Traum wurde es mir prophezeit, aber ich wollte es nicht glauben.“ Der Schnabel schien tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Es wirkte mütterlich stolz, aber auch bedrohlich. „Du musst nun gehen. Du hast deine Inspiration zurück“ Sie reckte den Hals nach vorne, wo der Berg wieder abfiel. Um sie herum dämmerte es.

„Ich hatte eh vor, aufzubrechen. Es wird zu kühl für meinen Aufzug“, sprach der Novellist und erhob sich mit diesen Worten. „Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ihnen und Ihren Kindern nur das Beste. Passen Sie auf sich auf. Es riecht, als zöge ein Sturm herauf.“

Er lupfte seinen Zylinder und drehte sich ein wenig bemüht auf seinem Absatz, der bis zur Hälfte im Geäst des Nestes versunken war. Dann spazierte er in die Richtung, die der Adler ihm gewiesen hatte.

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