Donnerstag, 12. August 2010

Der Novellist - 7. Teil

Das Gefälle war nur leicht und so kam er zügig voran. Der Fels um ihn herum präsentierte sich unwirtlich und kantig. Wann immer er sich an ihm festhielt, um Halt für einen etwas gewagteren Schritt zu suchen, hinterließ er schmerzende Druckstellen in seiner Handfläche. Wo er ihn streifte, blieben dünne Schrammen zurück, die ungefährlich waren, aber lästig brannten. Zum ersten Mal seit Anbeginn seiner Unternehmung fühlte Herr von Seinen sich ein wenig unwohl. Der Marsch gestaltete sich, obwohl Hindernisse rar gesät waren, mühselig und kräftezehrend. Mit der Überreife des Abends verschlechterte sich die Sicht. Die Konturen seines Weges wurden unscharf und wo eben noch Felsen und Kiesel zu sehen waren, fanden seine Augen keinen Halt mehr. Es war, als veränderte sich der Berg selber. Als stürbe er gemeinsam mit dem Tag. Als wäre es nicht die Sonne, die unterging, sondern die arme kleine Welt.
Plötzlich ging sein Schritt, der eben noch auf vertrauensvoll wirkenden Boden zugesteuert hatte, ins Leere. Fort war der Berg und Herr von Seinen fand sich in vollkommener Finsternis wieder. Anfangs war er etwas empört. Dann besann er sich und zog ein Manuskript aus seinem Kragen. In Ermangelung einer dienlicheren Unterlage, bildete er eine ausreichend große Fläche mit dem Handteller, legte das Papier auf diese und setzte seinen Füller an. Da er nichts sah, schrieb er blind. Es ist recht düster. Obwohl ich regungslos harre, scheine ich mich doch mit enormer Geschwindigkeit fortzubewegen. Ein faszinierendes, berauschendes Gefühl. Da er fürchtete, auf dem dicht beschriebenen Blatt Schaden anzurichten, beließ er es bei der kurzen Notiz. Er benötigte mehrere Versuche, das Papier zurück in die Gesellschaft der anderen zu schieben. Anschließend drehte er sich ratlos um die eigene Achse, kreuzte zum Spaß die hageren Beine, ging kurz in die Knie, um sich die Schuhe von den Füßen zu streifen, und räkelte sich abschließend mit ausgesprochenem Behagen. Eine wahrlich spannende Art zu reisen, und doch so komfortabel. Zudem eine ungemein wertvolle Erholung für das Augenpaar. Er griente spitzbübisch und blickte mit geschlossenen Augen in der Dunkelheit umher. Seine Finger spielten mit den gegenwärtig unterhaltsam wirkenden Manschettenknöpfen, ehe er dem Druck nachgab. Hurtig zog er den Schreiber ein weiteres Mal hervor und kritzelte mit inspirativem Eifer und höchster Konzentration eine Reihe von kleingeschriebenen Sätzen auf seine Hand, die vormals noch als Schreibunterlage hatte herhalten müssen.
Als er absetzte, begann die Situation ins Seltsame abzuschweifen. Gerade rechtzeitig gelang es ihm noch, den Stift unterzubringen, als seine Fingernägel mit ungeheurer Geschwindigkeit zu wachsen begannen. Wuchtigen Krallen gleich ragten sie aus seinen schlanken Fingerkuppen und nahmen unentwegt an Größe zu. Da Herr von Seinen nichts sah, konnte er diese Entwicklung nur mit seinen übrigen Sinnen verfolgen. Gleiches vollzog sich mit den Fußnägeln. Sie sprossen aus seinem Körper wie Pastete aus einer Tube und bogen sich gewagt nach oben. Auch der Rest seines Leibes schien dem Drang nach Expansion verfallen zu sein. Seine Ohren, insbesondere die ansonsten zipfelartigen Ohrläppchen, schwollen zu bestialischem Umfang an, die Haare sprossen, wie fließend Wasser und seine Nase schwoll unbeirrt zu einer Mächtigkeit heran, der seine Halsmuskulatur nicht länger standhalten konnte, anlässlich dessen sein Kopf mit einem Ruck nach vorne sackte, wo sein Kinn geräuschvoll auf die Brust traf. Hilflos spürte der Novellist, wie sein Körper mit Rasanz einer sonderbaren Zunahme ausgeliefert war. Langsam begann sich der Äther zu lichten. Winzige Punkte glommen unter ihm in der Schwärze auf. Einige größer, andere winzig klein und alle vermehrten sich mit der Geschwindigkeit, in der Herr von Seinens Körperteile aufgingen. Mit schrumpfender Entfernung verwandelten sich die Punkte in schleierhafte Wirbel von betörender Vollkommenheit. In einen von ihnen rauschte der Novellist hinein und fand abermals die gepunktete Schwärze vor, aus der sich ein weiteres Mal Wirbel schälten, von denen einer den Verwunderten aufnahm. Er bewegte sich so schnell, dass die Punkte, die an ihm vorbei huschten, wie Striche wirkten.
„Vielleicht“, mutmaßte er, „stürze ich ja in eine Schlucht.“ Mit wachsender Sorge hielt er seine Hand über die ausgebeulte Brust, damit seiner Arbeit nichts zustoßen konnte. Hierbei stießen Fuß- und Fingernägel aneinander und brachen tonlos ab. Die losgelösten Klauen verwandelten sich in feinsten Hornstaub und verpufften im Nichts. Seine wuchtige Haarpracht ähnelte im immer heller werdenden Licht auf einmal mehr einem saftigem Büschel Wiesengras und ließ sich problemlos von seinem Kopf rupfen. Hierbei brachen auch die Nägel der anderen Hand. Nur Seine Ohren wuchsen weiter, bis sie die abenteuerliche Nase berührten, an sie anknüpften und mit ihr verschmolzen. Dann sackte das neue Fleisch in sich zusammen und verschwand nahtlos in Herr von Seinens Physiognomie. Das Schwarz wurde heller und heller, gleichsam nahm die rauschhafte Geschwindigkeit rapide ab und der Novellist fühlte sich durch eine unbedingte Vorahnung, die Reise nähere sich ihrem Ende, dazu angehalten, die großen Zehen wieder mit Schuhwerk zu verhüllen. Einer der Punkte nahm die Form eines gleißenden Balls an und unweit von ihm offenbarte sich sein wahres Ziel. Das anfangs mickrig scheinende Kügelchen, das sich vor Kurzem zusammen mit einigen Kameraden aus dem Nichts geschält hatte, wuchs an und drehte sich stur um sich selbst. Auf seiner blauen Oberfläche taten sich große wie kleine braun-grün gemusterte Flächen hervor. Auf eine davon, ihm wohl bekannt in Form und Art, schwebte Herr von Seinen, der nachdenklich auf seiner Lippe kaute, zu.

Bald schon teilten sich die ersten Städte mit und am Rande einer ganz bestimmten berührten die weit gereisten Sohlen seiner Schuhe eine malträtierte Straßenoberfläche. Schreie drangen an sein Ohr und ein weitläufiges Gewusel unterschiedlichster Menschengattungen nahm ihn in seinen selbstregulierenden Strom auf. Waren wurden angepriesen, ein Mädchen beklagte sich über den Geruch von Fisch und anderen Dingen, mit denen es erst sehr viel später Bekanntschaft machen sollte. Weniger wohlerzogene Jungen lauerten hinter unachtsam gestapelten Fässern auf irgendeine Gelegenheit. Und über all dem lag ein fester Schleier aus Salz, der jeden Sinn gleichermaßen ansprach. Ein Wagen rollte dicht an Herrn von Seinen vorbei, sein Fahrer brüllte etwas, das glücklicherweise von den donnernden Geräuschen seines Gefährts verschluckt wurde, wahrscheinlich aber zu seinem ärgerlich zusammengezogenen Gesicht gepasst hatte. Nachdem der Novellist den Sitz seines Zylinders korrigiert hatte, drehte er sich um und blickte auf das glatte Meer. Eine kleine Traube von Leuten wurde durch das Anlegen des Dampfschiffes „Kronprinzessin Cecillie“ angelockt und gaffte gleichgültig über die Reling. In seinem Bauch verbrannte ein kurioses Gefährt die letzten Tropfen Treibstoff. Herr von Seinen unternahm die übliche Prüfung. Zylinder, Gamaschen, Füllfederhalter, 22 Knöpfe, Brille, Manuskripte, Schachtel mit Zündhölzern. Alles war vorhanden und an seinem rechtmäßigen Platz. Er nickte zufrieden und hob bescheiden eine Augenbraue, als er außerdem ein virtuos getrocknetes Tabakblatt in seiner Brustasche vorfand. Vielleicht war es an der Zeit, etwas zu Papier zu bringen.
Doch in diesem Augenblick verdrängte ein Plakat kurzzeitig jeden anderen Gedanken. Es kündigte einen bald in die Stadt einkehrenden Zirkus an und bot einen majestätischen Löwen als Blickfang. Ein Herr in violettem Frack und gleichfarbigem Zylinder hielt einen brennenden Reif, durch den das Biest wahrscheinlich springen sollte, der aber viel zu klein für diesen Zweck zu sein schien. Der Novellist war hin und weg. Das verhieß ein Spektakel sondergleichen. Was für eine Stadt!
Pfeifend schlenderte er am Kai entlang und beobachtete das alltägliche Treiben.
Lars von Seinen war allerbester Laune.

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